Betroffene erzählen:

Lebensweisheiten von Herrn S: So spielt das Leben.

Herr S. ist einer dieser Menschen, denen man stundenlang zuhören könnte. Er blickt zurück auf ein Leben voller Höhen und Tiefen. »Man darf nur nie vergessen, dass die Luft nach jedem Gewitter ganz klar ist.« Herr S. beschreibt sich selber als Wanderburschen und Vogel auf dem Drahtseil. Nur eines wäre für ihn nie in Frage gekommen: aufzugeben. »Jeder ist seines Glückes Schmied.« 15 Jahre lang lebte Herr S. auf der Straße, bis ihm im Jahr 2010 ein Schutzengel ein zweites Leben schenkte. Herr S.’ größter Wunsch ist es, seine Tochter wiederzusehen. »Auch während der Zeit auf der Straße war sie immer in meinen Gedanken, sie war und wird immer ein Teil von mir sein.«

Herr S. ist in München aufgewachsen, hat dort die Hauptschule besucht und seine Lehre in einer Spenglerei abgeschlossen, wo er nach dem Bundeswehrdienst auch ein paar Jahre lang arbeitete. Kurz nachdem Herr S. seinen Führerschein in der Tasche hatte, ereignete sich der erste von mehreren schweren Unfällen. Er saß als Beifahrer mit in dem Auto, als sein alkoholisierter Kollege die Kontrolle verlor. Das Auto kollidierte mit einem Baum, und Herr S. wurde schwer verletzt mit offenen Wunden im Gesicht und auf der Nase. Da er jedoch nicht alkoholisiert war, wurde er von der Polizei einfach nach Hause geschickt. Als die Schmerzen zwei Wochen später nicht mehr auszuhalten waren, wurde Herr S. in der Klinik in Großhadern behandelt. Seine Mutter, die immer noch in München lebt, sage immer wieder, dass er ab dem Unfall nicht mehr derselbe gewesen sei.

Ein paar Jahre später ereignete sich der nächste schwere Unfall. Herr S. stürzte aus 12 Metern bei der Arbeit ab. Er brach sich das Becken 10 Mal, Brust- und Halswirbel wurden ebenfalls verletzt. Die Ärzte prophezeiten Herrn S., nicht mehr laufen zu können. »Nach 3 Monaten war der Rolli wieder weg, weil ich an mich glaubte«, berichtet Herr S. stolz.

1993 heiratete Herr S. im Alter von 30 Jahren, und kurze Zeit später wurde seine Tochter geboren. Damals habe er auch schon viel Alkohol getrunken. 1994 trennten sich Herr S. und seine Frau und Ende des Jahres verlor er seine Wohnung. »Damals war es anders als heute, da kam es häufig vor, dass man vor Weihnachten vom Arbeitgeber gekündigt wurde.« 1995 ging Herr S. auf die Straße. »Die ersten paar Jahre waren schlimm.« Bei der Frage nach einer Geschichte aus dieser Zeit, erzählt Herr S., dass er in seiner Erinnerung immer nur die guten Dinge behalte, niemals die schlechten. Beim Betteln habe er meist Geld von alten Leuten bekommen. Viele Menschen seien zuerst vorbeigelaufen, hätten dann umgedreht und ihm doch was reingeworfen. Wenn die Menschen ihm etwas Gutes hätten tun wollen, habe er sich immer eine Butterbrezel gewünscht, niemals Alkohol. »Ich wurde sehr genügsam und zufrieden, wichtig war nur, durch den Tag zu kommen.« Ihm sein bewusst geworden, dass der Mensch nur Essen, Trinken, ein Bett und ein WC zum Leben benötige. Vor allem aber habe er sich selber auf der Straße kennengelernt. Er habe aber auch sehr viel Leid erfahren, besonders, wenn seine Freunde verstorben seien. »Wenn man sich selber auf der Straße aufgibt, ist man verloren.« Einmal habe er seine Tochter auf der Straße gesehen, sie sei dort 16 Jahre alt gewesen. Damals hat Herr S. ihr so vieles erklären wollen, dazu kam es aber nicht. Die letzten der insgesamt 15 Jahre auf der Straße habe er nur noch getrunken und geschlafen. Bis 2010 sein Herz und sein Körper nicht mehr wollten. »Du bist geboren, um zu sterben. Das ist der Lauf des Lebens, egal ob Pflanze, Tier oder Mensch, man hat nur eine begrenzte Lebenszeit.« Herr S.’ Lebenszeit war aber noch nicht vorüber, er sah das helle Licht am Ende des Tunnels und eine Stimme flüsterte ihm, dass er noch Zeit habe. Herr S. wurde am 9. Januar 2010 mit über 4 Promille reanimiert, und er danke seinem Schutzengel und allen Verstorbenen, die auf ihn aufpassten, für sein zweites Leben. Dort nahm er sich vor, nie mehr zu trinken und zu rauchen. Das erste Jahr danach verbrachte Herr S. im Altenpflegeheim. Da er sich für ein Leben im Altenpflegeheim jedoch zu jung fühlte, hätte ihm seine Betreuerin eine vom ZfP betreute Wohnung in Wangen vermittelt, wo er immer noch lebe. Seit seinem „Zweiten Geburtstag“ lebe er im Hier und Jetzt, sei dankbar und genieße jeden Tag, den er habe.

Seit einiger Zeit arbeitet Herr S. in Ravensburg in der BruderhausDiakonie, und er engagiere sich aus „Gaude“ heraus unter anderem im Werkstattrat. Herr S. beschreibt sich selbst als sehr vorsichtigen Waage-Menschen, der gerne ohne Worte kommuniziere und nicht gerne im Mittelpunkt stehe. »Hochmut kommt vor dem Fall.« Er habe ein sehr gutes Gespür dafür, was der Mensch brauche. Als Werkstattrat bekomme man sehr viel Druck von oben und unten. Er versuche aber stets das Gleichgewicht zu halten und es allen recht zu machen, nur nicht sich selber. »Wenn ich aber nicht granteln kann, bin ich nicht zufrieden«, fügt Herr S. schelmisch hinzu.

Herr S. ist auch der Meinung, dass man sich selbst ab und zu beschenken sollte. Durch die Arbeit in der Werkstatt genieße er die Freiheit, sich ganz spontan etwas im Geschäft kaufen zu können. Stolz zieht Herr S. sein dunkelblaues Smartphone aus der Tasche. »Die Farbe strahlt für mich Ruhe, Tiefe und Unendlichkeit aus.« Hätte Herr S. mehr Geld, würde er sich für arme Kinder engagieren. »Ich würde mit den Eltern einkaufen gehen und ihnen den Kühlschrank füllen.« Herr S.’ große Angst ist es, dass die Gesellschaft langfristig zerfalle, weil die Kinder eine zu kleine Lobby hätten.

Mittlerweile habe er sich mit seiner Mutter ausgesprochen, die ihm seine Fehler verziehen habe. »Man hat nur eine Mutter im Leben, und die kann nicht ersetzt werden.« Im Bus auf dem Weg zur Arbeit denke Herr S. immer an seine mittlerweile 27 Jahre alte Tochter, die immer ein Teil von ihm gewesen sei. Er werde es sich nie verzeihen, dass er nicht gesehen habe, wie sie groß wurde. Sein größter Wunsch im Leben sei es, dass sie ihm die Chance gebe, ihr alles aus seiner Sicht zu erklären. Aber vielleicht passiert das ja noch, denn: »Man soll nie nie sagen!«

»Mein Leben zwischen Fremdbestimmung und gefährlichen Abenteuern«

Thomas schaut nach oben und erkennt die Umrisse des Gipfelkreuzes auf dem Berg. Er spürt die Anziehung und die Faszination, die von diesem magischen Ort ausgehen. Heute ist Thomas vorbereitet. Die Route ist geplant, der Rucksack ist gepackt und das Wetter sollte mitspielen. Nur wenige Menschen kennen den versteckten Weg hinauf zum Gipfel, noch weniger Menschen bringen den Mut auf, den gefährlichen Weg auf sich zu nehmen. Bereit, alles hinter sich zu lassen, läuft Thomas los, egal wie sehr ihn seine Schmerzen quälen. Der Aufstieg bringt Thomas immer wieder an seine Grenzen. Steile Abhänge, gefährliche Geröllfelder und unüberwindbares Gelände verdeutlichen Thomas, wie klein und unbedeutend die Menschen doch sind. Ein falscher Schritt, ein Ausrutscher und das Leben ist vorbei. Auch das Abkommen vom Weg kann verheerende Folgen haben. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sich Thomas verstiegen hat. Einmal stürzte er deshalb mehrere Meter ab und verlor die Orientierung. Das kostete ihn wertvolle Zeit, da das Wetter schlechter wurde. Und als junger Mann zertrümmerte ihm ein Stein, der sich über ihm aus dem Felsen gelöst hatte, sein Knie. Thomas erreicht einen mit Gras bewachsenen Abschnitt. Mit dem mulmigen Gefühl nur von Graswurzeln gehalten zu werden, zieht sich Thomas Büschel für Büschel mit den Händen den steilen Hang hinauf. Er überquert einen letzten schmalen Grat. Und dann erreicht er es, das Gipfelkreuz! Voller Stolz, Schmerz und Überwältigung blickt er hinab ins Tal und spürt noch deutlicher die Magie dieses Ortes. In seinem Kopf erklingt seine Lieblingsmelodie „Air“ von Bach. Thomas weiß, dass ihn diese Erinnerung bis ans Ende seiner Tage begleiten wird.

Portrait

Thomas ist Mitte 40 und wohnt gemeinsam mit seinen Eltern in Weingarten. Er hat drei jüngere Geschwister, die er selten sieht. Er könne kleinkarierte Menschen nicht ausstehen und beschreibt sich selbst als pflichtbewusst und perfektionistisch. Er hasse Normalität und Monotonie und kämpfe häufig mit Reizüberflutung und starken körperlichen Schmerzen. Besonders stolz sei Thomas auf sein Durchhaltevermögen. »Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann lasse ich mir das von anderen nicht so schnell ausreden!«

Jeden Tag beginne Thomas damit, dass er Pläne für den Tag schmiede. Er überlege sich genau, welche Dinge er einkaufen müsse und ob die freundliche Angestellte in der Bäckerei heute Dienst habe, weil er gerne ein paar Worte mit ihr wechsle.  

Als besonders prägend in seiner Kindheit beschreibt Thomas die ständige Fremdbestimmung durch die Kirche und seine sehr religiösen Eltern. Sein Umfeld habe versucht, ihn 30 Jahre lang in eine Schublade zu pressen und ihm Lebensziele vorgegeben. Diese Ziele seien jedoch für ihn nie erreichbar gewesen, weshalb er seinem Umfeld nie gerecht wurde. Gleichzeitig habe er in seiner Freizeit seine Abenteuerlust entdeckt und sei in Schulen auf Dächern herumgeturnt und vom Hausmeister gejagt worden. Wenn Thomas unterwegs war, war er außerdem nicht erreichbar für die Leute, die meinten, sein Leben bestimmen zu müssen.

Thomas habe eine Ausbildung als Bürokaufmann gemacht, jedoch nie in diesem Beruf gearbeitet. Stattdessen war er für Zeitarbeitsfirmen tätig. Sein schlimmster Job sei das Halbieren von Erdbeeren als Erntehelfer gewesen. Jetzt arbeite Thomas nicht mehr und bekomme die volle Erwerbsminderungsrente. Er sei jetzt »Zeitmillionär«, scherzt Thomas. Einmal sei er von seinen Eltern weg und habe versucht, in einer WG zu wohnen. Die räumliche Nähe mit anderen Menschen war aber nichts für ihn. Außerdem verstehe sein Umfeld nicht, warum man Geld für ein Zimmer ausgeben muss, wenn man doch zuhause wohnen könne.

Nicht leiden könne Thomas, wenn andere Menschen versuchen, ihn unter Kontrolle zu haben. Über die Jahre habe er deshalb gelernt, sich in andere hineinzuversetzen. Er könne auch schnell entscheiden, ob jemand echt ist oder nicht. Von anderen Menschen erwarte Thomas Ehrlichkeit, Offenheit und Empathie. Von sich selbst erwarte er, die Ursache für seine Schmerzen zu finden. Dankbar sei Thomas deshalb über Menschen, die versuchen ihm zu helfen.

In seiner Kindheit entwickelte Thomas eine Leidenschaft für Chemie. Sein Kinderzimmer habe damals einem Chemielabor geglichen. Dort habe er auch bemerkt, einen Hang zur Gefahr zu haben. Alleine auf Berge zu steigen war deshalb seine Leidenschaft. Aus körperlichen Gründen und wegen der starken Schmerzen musste Thomas die Berge jedoch aufgeben. Seine Erinnerungen an die Berge sind jedoch bunt und lebendig und lassen Thomas beim Erzählen strahlen.

Thomas große Hoffnung sei die Schmerzfreiheit, dafür würde er alles geben. Deshalb sei sein Lieblingssprichwort »Wer heilt, hat recht!«.

Könnte er sein Leben nochmals leben, würde Thomas sich nicht fremdbestimmen lassen und sich spätestens mit 18 Jahren eine eigene Wohnung suchen. Anderen Menschen mit auf den Weg geben möchte er, dass man immer in sich hineinhören müsse, um herauszufinden, welche Dinge einem gut tun. Alles andere solle man lieber früher als später bleiben lassen.